Andrea Harmonika: Krieg und Frieden

Vom Aufwachsen unter Geschwistern

Dieser Text stammt aus dem Buch „Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne“ von Andrea Harmonika. Das Buch könnt Ihr direkt hier im Shop, im Buchhandel vor Ort oder bei Amazon bestellen.



Jeden Abend lehne ich einen Moment im Türrahmen und schaue den Kindern beim Schlafen zu. Das ist mir einer der liebsten Augenblicke des Tages, und ich meine das nicht zynisch. Ich genieße es von ganzem Herzen. Ihre friedlichen Gesichter, entspannte kleine Körper, die in alle Himmelsrichtungen ausgestreckt wie der Kleine oder stramm in die Bettdecke eingerollt wie der Große so daliegen. Manchmal liegen sie auch aneinander gekuschelt, jeder einen Arm schützend um den anderen gelegt. Während mein Herz dann in dieser seligen Mischung aus Glück und Dankbarkeit badet, kann mein Hirn oft kaum glauben, dass diese beiden Engel, die dort händchenhaltend eingeschlafen sind, sich keine halbe Stunde vorher noch mit dem Rausfallschutzgitter aus dem Kinderbett über den Flur gejagt haben.

Wie schön, dass Du geboren bist…

Geschwister sind ein Geschenk. Ich muss es wissen, denn ich habe zwei von ihnen. Aber wie das mit Geschenken so ist, weiß man sie manchmal nicht immer gleich zu schätzen. Zum Beispiel habe ich mich mal an dem Katzenklo einer Bekannten mit Toxoplasmose infiziert, was sich erst Jahre später als ungemein praktisch herausgestellt hat, weil mein Körper dadurch jede Menge Antikörper gebildet hatte, mit denen ich dann die gesamten Schwangerschaften hindurch meinem Fenchelsalami-Fetisch frönen konnte. Mit Geschwistern ist das ebenso. Glauben Sie mir! Wenn Sie mit Geschwistern aufgewachsen sind, dann haben auch Sie im Laufe Ihrer Kinderzeit jede Menge Antikörper gebildet, die Sie heute noch durchs Leben tragen. Geschwister sind nämlich der Grundausbildungsgarant in Sachen Kameradschaft und Kriegsführung. Nirgendwo sonst kann man von klein auf so schnell und intensiv lernen, wie man teilt, aufeinander Rücksicht nimmt und kleine bewegliche Ziele trifft, oder Asozialkompetenzen wie Petzen oder Schuld in fremde Schuhe schieben erwerben.
Denn bei aller Geschwisterliebe, ständig wird sich gekloppt. S-T-Ä-N-D-I-G W-I-R-D S-I-C-H G-E-K-L-O-P-P-T!!

„Der hat mich komisch angeguckt!!!“
„Der hat mich zuerst komisch angeguckt!!!“

Sie ahnen ja nicht, wie viele Geschwisterkonflikte Eltern jeden Tag auf der Welt schlichten müssen, bei denen sie nicht einmal ansatzweise kapieren, um was es bei dem Streit überhaupt geht.

„Wie, er hat dich komisch angeguckt?!
Du hast seinen Silbenstift durchgebissen, weil er dich komisch angeguckt hat?!“

In Deinem Zimmer riecht’s nach Furz

Dabei dürfte mich das strenggenommen gar nicht überraschen. Immerhin habe ich vor über 30 Jahren schon zur Strafe die gesamte thermoplastische Eulensammlung meines Bruders abgeleckt, weil der in Gegenwart meiner Nachbarsfreundin Melanie behauptet hatte, in meinem Zimmer „riecht‘s nach Furz“. Unzählige Male wurde ich in den großen kratzigen Wohnzimmerteppich gerollt, an die Leiter unseres Hochbetts gefesselt oder von meiner Schwester beschuldigt, sämtliche Füße ihrer Barbiepuppen plattgekaut zu haben. (Was stimmte. Alle ihre Barbies sahen aus, als hätten sie Taucherflossen an den Füßen.)

Neu ist der Geschwisterzwist nicht. Tatsächlich platzen die Geschichtsbücher mit ihren Schauermärchen über Brüderchen und Schwesterchen aus allen Nähten. Getreu nach dem Motto „Eine Hand bricht die andere“ gerieten bereits ganze Völker wegen Unstimmigkeiten unter Geschwistern aneinander. Denken Sie nur an Kain, der aus Eifersucht seinen Bibelbruder Abel erschlug, nur weil der in Gottes Augen besser seine Opferziegen auf links ziehen konnte. Die ägyptische Königin Kleopatra ließ ihre Schwester Arsinoë hinrichten, nur weil eine klitzekleine Chance bestand, dass diese aus ihrem Exil heraus an ihrem Thron hätte sägen können, und der Naturwissenschaftler und Staatsmann Benjamin Franklin gab einmal an, einer der hassenswertesten Menschen in seinem Leben sei sein älterer Bruder James gewesen, bei dem Franklin, lange bevor er seine Unterschrift unter die Bill of Rights setzen durfte, eine Ausbildung zum Buchdrucker machen musste.

Das wohl mit Abstand schlimmste Beispiel für Geschwisterkrach thront allerdings hoch oben auf dem Olymp. Das blutige Ausmaß der Konflikte zwischen Göttin Hera und ihrem Bruder stellt jede griechische Tragödie in den Schatten. Was allerdings auch nicht verwunderlich ist, wenn man erst seinen Bruder heiratet und der Göttergatte dann mit sage und schreibe 35 (!) Geliebten 61 (!) Nachkommen zeugt. (Angesichts dieser Zahlen ist es höchstens verwunderlich, weshalb die Epiphanie des Zeus der Blitz und nicht sein tüchtiger Hoden ist.)

Unter uns

Aber das ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Drehen wir sie also um und schauen lieber auf den legendären Zusammenhalt unter Geschwistern. Zum Beispiel auf Hänsel und Gretel. Oder die Kardashian-Schwestern. Die innige Verbindung der Grimm’schen Geschwister gilt ja quasi traditionell als ultimative Waffe gegen böse Hexen und Regretting Motherhood. Und auch wenn sie sich bestimmt schon oft gegenseitig ihre Extensions langgezogen haben, muss man doch neidlos anerkennen, dass bei Kim, Khloe, Kylie, Kendell, Kourtney und Kokolores Kardashian offensichtlich nicht nur ein Buchstabe der Kitt ist, der den Klan zusammenhält.

Denn auch wenn bei uns zu Hause kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein irrwitziger Streit vom Zaun gebrochen wird, weil vielleicht einer am Tisch das Ketchup zu lange festgehalten hat, wird auf der anderen Seite ebenfalls rührend füreinander gesorgt. Nie wird der Eine vergessen, sobald der Andere unterwegs einen Luftballon geschenkt bekommt. Wenn der Eine vom Trampolin fällt, kommt der Andere und tröstet (Gleich, nachdem er die Leiter wieder eingehängt hat, die er zuvor heimlich entfernt hat). Hohes Fieber und schlechte Träume werden grundsätzlich auch mit geschwisterlichen Streicheleinheiten und Kuscheltierleihgaben behandelt. Und ist es nicht eine außerordentlich solidarische Geste, wenn sich der Eine ebenfalls einen 4 Zentimeter breiten Glatzenstreifen von der Stirn bis zum Nacken rasiert, obwohl es ganz offensichtlich schon bei dem Anderen keine gute Idee war?

Was uns zusammenhält

Auch meine Geschwister sind für mich bis heute eine der prägendsten Konstanten in meinem Leben. Denn sie haben mich nicht nur das Fürchten, sondern auch das Fahrradfahren, Häkeln und Schreiben meines allerersten Wortes gelehrt. Sie haben mir zugehört und mich zugedeckt und im Laufe der Jahre mehr als nur ihre Süßigkeiten mit mir geteilt. Sie hielten meine Hand an dem Tag, als unser Vater starb, und die Hände meiner Kinder, als diese auf die Welt kamen. Das alles macht uns zu Gefährten. Einer tief verwurzelten Gemeinschaft, die vieles verbindet, auch wenn sie manches trennt.

Und manchmal, wenn ich am Abend im Türrahmen lehne, um den Kindern einen Moment lang beim Schlafen zuzusehen, dann mache ich ein Foto. Von ihren friedlichen Gesichtern, die sie, obwohl sich jeder von ihnen bereits in eine eigene Welt geträumt hat, einander zugewandt haben. Denn mit wem könnte ich dieses stille Geschwisterglück dann besser teilen als mit der WhatsApp-Gruppe ihrer Onkel und Tanten?



Dieser Text stammt aus dem Buch „Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne“ von Andrea Harmonika. Das Buch könnt Ihr direkt hier im Shop, im Buchhandel vor Ort oder bei Amazon bestellen.

Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne -- Cover
Das Cover des Buches „Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne – Vom Sinn und Unsinn mit Kindern“ von Andrea Harmonika, erschienen bei Veryfatbooks

Stimmen zum Buch:

„Es gibt viele Bücher übers Elternsein, aber dieses ist ein besonders gutes.“
Westfälische Nachrichten

„weise und witzig“
BRIGITTE

„Klug, offen, lustig, warm und sehr selbstironisch.“
Brigitte MOM

„Schreiend-komisch und treffend-ehrlich.“
Hamburger Morgenpost

„Lustig, lakonisch und mit ganz viel Liebe geschrieben.“
ELTERN family

„Bei ihren Texten hat man oft Tränen in den Augen – meistens vor Lachen, manchmal vor Rührung, aber jedes Mal treffen sie mitten ins Herz.“
Danielle Graf, Spiegel-Bestsellerautorin von „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn.“



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